Die unwahrscheinlichste Karriere im Jazz und ihr abruptes Ende

Wes Montgomery, 06.03.1923 – 15.06.1968 © Foto: Roberto Polillo

Am 15. Juni 1968 – vor nun genau 50 Jahren – saß Wes Montgomery in seinem Haus in Indianapolis, als er plötzlich zusammenbrach. Seine Frau Serene versuchte noch Hilfe zu holen, doch es war zu spät. Der Jazzmusiker war tot, gestorben an einem Herzinfarkt im Alter von 45 Jahren.

Es war das Ende einer Karriere, die so einzigartig war, dass es sie eigentlich gar nicht hätte geben dürfen. Aufgewachsen in einer musikalischen Familie, begeisterte sich Wes zunächst kaum für ein Instrument. Während seine Brüder bereits Klavier, Bass und Schlagzeug spielten, hatte Wes vermutlich noch andere Dinge im Kopf. (Wes Biograph Oliver Dunskus sagt, die Brüder hätten erst nach Wes mit der Musik angefangen. Okay, ich beuge mich seiner Expertise!) Bis er eines Tages Aufnahmen des Gitarristen Charlie Christian hörte und sofort seinen Industriearbeiterlohn in ein Musikgeschäft trug, um eine elektrische Gitarre und einen Verstärker zu kaufen. Das muss um das Jahr 1942 gewesen sein, als er schon 19 Jahre alt war. Spät, um mit einem Instrument zu beginnen, doch Wes übte so lange, bis er die Soli von Christian nachspielen konnte. Damit ging er in die Clubs und trat auf. 1948 reicht das sogar, um mit Lionel Hampton auf Tour durch die USA zu gehen. Ein Sprungbrett für viele Musiker. Doch der Gitarrist verlässt die Band nach zwei Jahren und geht heim nach Indianapolis – womit die Musikerkarriere von Wes Montgomery eigentlich vorbei war.

Später Erfolg

Erst sehr viel später, im Jahr 1959, passierte dann das Wunder. Der Saxophonist Cannonball Adderley kam nach Indianapolis und ging im Anschluss an seinen eigenen Auftritt noch in einen lokalen Club. Dort hörte er Wes und konnte seinen Ohren nicht trauen. Noch in derselben Nacht soll er seinen Produzenten Orrin Keepnews angerufen haben, um ihm von diesem großartigen Gitarristen in Indianapolis zu berichten. Wenige Wochen später saß Keepnews selbst in dem Club und reichte Wes einen Plattenvertrag.

Die ersten Aufnahmen machten beide im Herbst 1959, doch erst die zweite, 1960 veröffentlichte LP „The Incredible Jazz Guitar of Wes Montgomery“ verschlug den anderen Jazzgitarristen den Atem und ließ Musiker aufhorchen. Quasi über Nacht war der unbekannte, schon 37 Jahre alte Gitarrist ein Star der Jazzszene. 1961 überlegte Jazz-Gott John Coltrane, Wes in seine Gruppe zu holen. Aber die Verbindung, theoretisch eine Hochzeit im Himmel, klappte auf der Bühne wohl nicht. 1962 nahm Wes dann mit der Rhythmusgruppe von Jazz-Obergott Miles Davis das Livealbum „Full House“ auf, das erste Dokument, das seine gesamte Genialität und Einzigartigkeit ausbreitet.

Die Erfindung des Popjazz

Wes ist nun etabliert, spielt mit den großen Namen, doch die nächste Wende kommt schon bald. Seine Plattenfirma macht Konkurs, aber mit Verve klopft ein Major-Label an. Und dies hat besondere Pläne. Während die Beatles die gesamte Musikszene der USA in einem Erdbeben durcheinanderrütteln und dabei auch den Jazz quasi über Nacht zur Altherrenmusik degradieren, wird Wes für das weiße Massenpublikum kompatibel gemacht. Mit immer neuen Popjazz-Alben wird Wes zum Objekt des Produzenten Creed Taylor. Dabei entstehen Meilensteine wie das Album Tequila, arrangiert von Produzent Claus Ogerman, aber auch seichtester Kitsch. Von jetzt an kann Wes seine Familie gut ernähren und Cadillac fahren.

Doch sein strapaziertes Herz gehört immer noch dem klassischen Jazz. Auf Tour wird er weiterhin nur von einem Quartett begleitet, und die Liveaufnahmen des Jahres 1965 mit den Pianisten Wynton Kelly und Harold Mabern sind das musikalische Gipfelkreuz seines gesamten Schaffens. Gleichzeitig ist er ein Star, geschätzt vom breiten Publikum wie von der Musikszene. Die Beatles lassen sich durch seine Version von „A Day in the Life“ zum Arrangement von „Let it Be“ inspirieren.

Auf dem Weg zu einem neuen Stil

Mit dem Wechsel zum Label A&M im Jahr 1967 werden die Platten des Gitarristen noch einmal kommerzieller und flacher. Gleichzeitig spielt er mit seinen Brüdern als die „Montgomery Brothers“ auf Festivals und zeigt sich technisch und musikalisch bereit, an einem neueren, aktuelleren Gruppensound zu arbeiten, der die klassischen Jazzelemente und die neueren Einflüsse der Musik um ihn herum verschmilzt. Doch dazu soll es nicht mehr kommen. Der plötzliche Tod des Kettenrauchers und Workaholic Wes Montgomery sorgt für ein jähes Ende.

Die Frage, was Wes Montgomery noch alles hätte leisten können, ist eine schöne Spekulation. Gitarristen wie George Benson, Pat Martino oder Grant Green, die mit Wes eng verbunden waren, haben mit ihrer eigenen Entwicklung einige Hinweise darauf gegeben, was noch alles hätte sein können. So aber werden die wenigen Jahre, die Wes im Jazzolymp gegeben waren, als ein kompaktes Zeugnis einer Zeit in Erinnerung bleiben, die durch eine wahnsinnig schnelle Entwicklung der Stile und einen grundlegenden Wandel der Musikwelt gekennzeichnet ist. Wir sehen im Rückblick, wie Wes die Blütezeit des klassischen Jazz mit vollendete, und gleichzeitig bei der Geburt von Pop, Soul und Funk dabei war. Eine spannende Ära, ein stilprägender Gitarrist und Wegbereiter, ein Herzensmensch und -musiker, ein viel zu kurzes Leben.

 


Update: Ich einer früheren Version des Textes hatte ich geschrieben, die Beatles hätten Wes erlaubt, „Let it be“ früher zu veröffentlichen als sie selbst. Das stimmt so nicht, das hatte ich falsch abgespeichert. Aber Wes‘ Version von „A Day in the Life“ hatte die Beatles begeistert und zum Arrangement von „Let it Be“ inspiriert. Es war dann Hubert Laws, der den gleichen Produzenten wie Wes hatte, der den Song noch vor den Beatles veröffentlichen konnte.

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